Auf dem rechten Auge blind - die Justiz

Auf dem rechten Auge blind

Immer wieder stellt sich uns die Frage, warum so wenige NS-Straftäter wirklich zur Rechenschaft gezogen wurden. Wenn wir die Frage beantworten wollen, müssen wir uns immer wieder vor Auge führen, dass ein großer Teil der Nazirichter und Nazistaatsanwälte in der jungen Bundesrepublik wieder am Gericht arbeiteten. Die Justiz der NS-Zeit war 1949 personell fast vollständig wieder hergestellt. Kein einziger NS-Jurist war zu diesem Zeitpunkt von einem bundesdeutschen Gericht verurteilt worden. Und wenn ein ehemaliger Nationalsozialist über einen Nationalsozialisten urteilen sollte, wie glaubst du, fiel das Urteil aus?

Führerbefehl und Gesetz

Man redete sich heraus. Einmal gab es ja den Führerbefehl und es gab das Gesetz. Dass die Gesetze des NS-Regimes unrechtmäßig waren, auf die Idee kamen leider nur sehr wenige. Gesetz ist Gesetz, so dachten eben die Deutschen in der Mehrheit. So kam es dazu, dass tapfere Widerstandskämpfer gesetzlos gehandelt hatten, wenn sie sich gegen Hitler und seine Herrschaft zur Wehr gesetzt hatten.

Die Prozesse gegen die Hauptstraftäter fanden viele Deutsche ja noch in Ordnung. Sollten sie doch bestraft werden für all die schrecklichen Taten, die sie begangen hatten. Doch als die Alliierten 1946 ankündigten, die Verfahren auch auf Ärzte, auf Unternehmer, auf Bankiers und eben die Juristen ausdehnen zu wollen, zeigten sich schon weniger Menschen begeistert.

Die Inhaftierung der Verantwortlichen rief all jene auf den Plan, die nun eine Verschonung der Kriegsverbrecher forderten. Diese Forderung kam aus allen möglichen Ecken, auch die Kirchen machten sich dafür stark.

Wie sah es die Bevölkerung?

Dass unter den Inhaftierten auch einige Schuldige waren, davon waren viele Deutsche überzeugt. Doch der Rest - so dachten viele - würde von den Alliierten nur aus Rachsucht angeklagt und als Verbrecher abgestempelt. So prägte man auch den Begriff der "Siegerjustiz", was nichts anderes heißt, als dass Sieger, die Alliierten, über Besiegte, die Deutschen, nun zu Gericht saßen und damit auch am längeren Hebel. Und eine Siegerjustiz wollten die Deutschen nicht unterstützen. 

So begannen sich die Gefängnisse allmählich von den Kriegsverbrechern zu leeren. Viele Todesstrafen waren im Laufe der Zeit in Haftstrafen umgewandelt worden und ein Großteil der Täter wurde dann auch wieder vorzeitig aus der Haft entlassen.

Urteile gegen Widerstandskämpfer wurden für rechtens erklärt

Einige Richter handelten sogar noch wie Nazi-Richter. So entschied im Jahr 1951 das Landgericht München, dass das Urteil gegen den Widerstandskämpfer Hans von Dohnanyi "nach dem damaligen Rechtszustand" rechtmäßig gewesen sei. Die Täter - die Richter, die das Urteil aussprachen - wurden niemals belangt. Dies war kein Einzelfall. Dem Widerstand gegen Hitler wurde jegliche Rechtmäßigkeit abgesprochen. Die wirklichen Täter wurden entlassen oder gleich frei gesprochen.

Auf dem rechten Auge blind

Zwischen 1952 und 1957 kamen die meisten Prozesse völlig zum Erliegen oder wurden verschleppt. Kommunisten wurden allerdings zur gleichen Zeit verfolgt, verhaftet und verurteilt. 1953 zum Beispiel wurden 123 NS-Täter und 1655 Kommunisten verurteilt. Die Justiz war wieder auf dem rechten Auge blind. 1956 verbot man die KPD und 1958 wurden die letzten Verurteilten aus den Nürnberger Nachkriegsprozessen aus der Haft entlassen.

Ein Umschwung begann erst Ende der 50er Jahre und dann in den 60er Jahren. So fand 1961 der Prozess gegen den Nazi-Verbrecher Adolf Eichmann in Israel statt  und ab 1963 die Auschwitzprozesse in Frankfurt. Auch suchten immer mehr junge Leute Antworten auf ihre Fragen, Fragen, die die Mitverantwortung ihrer Eltern und Großeltern betrafen. 

Doch die Unrechtsjustiz der 50er Jahre wirkte trotzdem weiter. So manches kommt erst heute ans Licht. Viele Jahre zu spät.


Blick voraus

Bis 1998 wurden insgesamt 106 000 Ermittlungsverfahren gegen NS-Verbrecher begonnen, von denen nur knapp 6500 überhaupt mit einer Bestafung endeten. Lange Zeit wurde der Unrechtsstaat Adolf Hitlers wie ein Rechtsstaat behandelt. Erst im Jahr 1989 wurde den Unrechtsurteilen der NS-Zeit ihre Rechtmäßigkeit abgesprochen und erst dann konnte man die Täter belangen, Täter, von denen der größte Teil nicht mehr lebte. Es war zu spät.